Meine geliebte Großtante, von uns immer nur "Tante" genannt, wäre in diesem Herbst 90 Jahre alt geworden. Ohne sie wäre ich nicht der Mensch, der ich bin. In vielerlei Hinsicht hat sie mich und mein Leben geprägt. Ich verdanke ihr viel. Und noch immer, viele, viele Jahre nach ihrem unerwarteten Tod vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie denke.
Meine Liebe zur Natur, zu Pflanzen und insbesondere zu Kräutern verdanke ich zum Großteil ihrem Einfluss. Meine Eltern, meine Schwester und ich lebten mit meiner Großtante unter einem Dach. Der große Familiengarten wurde gemeinsam bewirtschaftet. Schon von klein auf erlebte ich den Jahreszyklus im Gemüsegarten, das Umgraben, Düngen, Säen, Jäten, Ernten, auch das Ernten der Samen für das nächste Jahr, mit. Die ganze Familie war daran beteiligt. Aber den größten Einfluss auf meine Sicht des Gärtnerns nahm eindeutig meine Großtante.
Zu einer Zeit als bio und öko noch keine Begriffe waren, setzte sie Brennnesseljauche als Dünger für den Gemüsegarten an. Sie pflanzte Wildpflanzen wie Brennnessel und Bärlauch für Tee und allerlei Verwendung als Gemüse in den Garten. Damals handelte man sich mit solcherlei Dingen - zumindest bei uns - noch einen etwas sonderbaren Ruf ein. Aber was andere darüber dachten oder sagten, war ihr egal.
Tante im Gemüsegarten 1986 Auf langen Spaziergängen mit ihr lernte ich viel über essbare Wildpflanzen. Als Kind faszinierte mich der Gedanke, eines Tages allein in der Wildnis zu leben, ich fühlte mich schon beinahe dazu bereit... Nun ja, mit jedem Schuljahr wurde mir mehr bewusst, dass dazu auch anderes nötig ist, als nur Nahrung zu finden und ich nahm Abstand von meinem Plan.
Aber in Erinnerung sind mir ihre lebendigen Erzählungen geblieben. Von ihr lernte ich als Kind, wie sich aus Eicheln und Wegwartewurzeln Kaffee herstellen lässt, wie man Brennnesseln und andere Wildpflanzen verkocht oder was man in Notzeiten alles als Mehl verwenden kann. Dass man aus Löwenzahnblüten und den Triebspitzen der Fichten "Honig" machen, was man alles in einen richtigen Wildkräutersalat geben kann und vielerlei anderes über die Verwendung wildwachsender Pflanzen. Wir haben gemeinsam Hollerblüten in Teig ausgebacken, Hagebuttenmarmelade und "Hollerkoch" gemacht, die Samenstände des Wiesenbärenklau als Brotgewürz gesammelt - und ich liebte ihre "gebackenen Grasschnitten"! Erst vor einigen Jahren wurde mir klar, dass sie damit große Beinwellblätter bezeichnete, die sie in einem Backteig in Fett schwimmend herausbuk.
Am meisten gelernt habe ich von ihr über Kräuter und deren Verwendung. Beim Kräutersammeln durfte ich teilhaben an ihrem Wissen über Heilpflanzen, den richtigen Erntezeitpunkt, ihre Heilkräfte und die Art der Anwendung. Gut in Erinnerung ist mir noch der große Kräuterschrank meiner Großtante, der von oben bis unten gefüllt war mit Gläsern voller verschiedener Heilkräuter und Wurzeln.
Sie liebte Pflanzen und sah sie, als sehr religiöse Frau, als Geschenk Gottes an, mit dem man sorgsam und mit Achtung umgehen muss.
1985 beim Heu machen für die Familienhühner Und auch eine andere Vorliebe scheine ich von ihr übernommen zu haben: Das Verarbeiten von Beeren und anderen Geschenken der Natur zu hochpozentigen Köstlichkeiten. In meiner Kindheit standen auf dem Boden unseres Kellers oft Gärballone mit allerlei Fruchtweinen, es blubberte und duftete! Meine Großtante setzte auch verschiedenste Liköre - auch solche mit Heilwirkung - an. Ihr Likörschrank war berüchtigt. Wenn sie ihn erst mal öffnete, kamen die Gäste nicht so schnell wieder weg.
Mein Leben spiegelt viel von ihrem wider, nicht nur, was Natur und Pflanzen betrifft. Und dafür und für ihre uneingeschränkte Liebe, der ich mir immer gewiss sein konnte, möchte ich ihr auch hier ein Danke sagen.
Schade, liebe Tante, dass du nicht mit 90 noch immer in deinem geliebten Garten werkeln kannst. Dafür schaust du hoffentlich mir des öfteren dabei über die Schulter, da bin ich mir ganz sicher.